Digitale Staatlichkeiten

von Dr. Benjamin Fadavian (2020)

 

Gleichgültig um welchen Abschnitt der Menschheitsgeschichte es geht: Das Recht, öffentliche und private Verhältnisse zu deuten, zu ordnen, über sie zu entscheiden und Rechte und Pflichten innerhalb einer Gemeinschaft verbindlich zuzuweisen, ist begehrt und im globalen Kontext latent umstritten. Aus quantitativen und qualitativen Gründen ist dieses  Recht, wenn es durchgesetzt werden soll, mit der hoheitlichen Ausübung von Macht, ja mit Gewalt verbunden. Es ist dies einerseits die Gewalt, die zur Komprimierung der Wirklichkeit erforderlich ist, wenn eben diese Wirklichkeit mittels Komplexitätsreduktion (Luhmann 1973) auf Relevanz überprüft und bestimmte Wirklichkeitselemente sodann festgehalten, andere wiederum aussortiert werden. Es ist dies andererseits jedoch auch jene Gewalt, die zum Vorschein kommt, wenn die Verteidigung und Durchsetzung der für ordnungsgemäß und rechtssicher befundenen öffentlichen Artefakte stattfindet. Dem demokratischen Verfassungsstaat hiesiger Provenienz ist in diesem Zusammenhang etwas ganz und gar Unwahrscheinliches gelungen: die Herstellung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf Basis der Freiheit der Menschen (vgl. Depenheuer 2017a: 285). Zwar überführt auch der demokratische Verfassungsstaat Unsicherheit in verbindliche Rechtssicherheit, doch geschieht dies nicht willkürlich, sondern auf Grundlage einer demokratisch domestizierten Form der Gewalt – der öffentlichen Gewalt. Nicht teilgewaltig, dafür gewaltenteilig ist die öffentliche Gewalt in einen Verfassungsrahmen eingebettet, der sie geradezu dialektisch sowohl Garant als auch potenziellen Gefährder der freiheitlichen Verfassungsordnung sein lässt (vgl. Hegel 1805/1806: 6). Nicht von ungefähr fordert das Grundgesetz für jeden, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt ist, effektiven Rechtsschutz, wobei dieser Rechtsschutz freilich selbst nur durch öffentliche Gewalt in Form von Rechtsprechung gewährt werden kann. Das Vorhandensein von öffentlicher Gewalt, mithin von Staatsgewalt, ist daher konstituierend für die Existenz eines Staates. Mithin muss nach Georg Jellineks Drei-Elemente-Lehre ein Staat die Merkmale Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt aufweisen (Jellinek 1905: 381ff.). Kurzum: Kein Staat ohne Staatsgewalt, die durch ihre Organe und Institutionen Rechte und Pflichten letztverbindlich zuweist und durchsetzt.

 

Zum staatlichen Gewaltmonopol

Traditionell beanspruchen Staaten für ihren Wirkbereich das Gewaltmonopol, mithin das alleinige Recht, Gewalt auszuüben. Schwingen sich nicht autorisierte Individuen oder Kollektive auf, Gewalt anzuwenden, setzen sie sich der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aus. So verdeutlicht etwa  die Strafbarkeit der Amtsanmaßung (§ 132 StGB) oder der mittelbaren Falschbeurkundung (§ 271 StGB), wie sensibel etwa die Bundesrepublik Deutschland reagiert, wenn in exklusiv-staatliche Aufgabenbestände eingedrungen oder die Rechtmäßigkeit ihrer Aufgabenerfüllung behindert werden soll. Die Zielrichtung ist klar: Nur staatliche Institutionen, die sich nach der Theorie der ununterbrochenen Legitimationskette (Böckenförde 2004) auf die Willensäußerung des Volkes als demokratisches Substrat zurückführen lassen, verfügen über ein ausreichendes Maß an kollektiv geäußerter und rechtsstaatlich gebundener Autorität, um öffentliche Angelegenheiten zu besorgen und dabei bisweilen in private Rechtssphären einzugreifen. Normative und faktische Grundlage dessen ist jedoch eine funktionierende, singuläre Staatsverwaltung, die mithilfe persönlicher Identitäten auf Basis von positivem Recht nachprüfbare Rechts- und Umweltgestaltungen trifft und diese, etwa durch unmittelbare Ausführungen oder mit den Mitteln staatlicher Währungen, exekutiert.

 

Subkutane Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols

Die Exklusivität staatlicher Gewaltausübung wird in der westlichen Welt sukzessive in Frage gestellt. Freilich geschieht dies kaum mit den negierenden Mitteln offensiver Gewalt, die in hiesigen Gefilden zum Scheitern verurteilt wären. Vielmehr bedienen sich die Protagonisten der Moderne digitaler, subkutaner Methoden. So ist etwa Facebook im Juni 2019 „endgültig zu einem eigenen Staat geworden“ (Hurtz 2019). Neben 2,7 Milliarden Nutzern, die sich mit Erlangung ihrer digitalen Identität auf die Gemeinschaftsstandards verpflichtet haben, einem 40-köpfigen Expertengremium, das über die Auslegung der Gemeinschaftsstandards befinden soll (Hoppenstedt 2019) und dem Zugriff des Facebook-Hauptquartiers etwa auf Beiträge, die als löschungsbedürftig angesehen werden, kommt nun noch eine eigene Währung: Libra – das Kryptogeld von Facebook (Rehfeld 2019). Unweigerlich drängt sich die Frage auf, welche Strukturmerkmale eine Gemeinschaft eigentlich aufweisen muss, bis sie faktisch in Konkurrenz zum exklusiv daherkommenden, demokratischen Verfassungsstaat herkömmlicher Natur tritt. Usurpiert die Idee der pluralen digitalen Staatlichkeiten auf permissive Art und Weise (Han 2014: 25ff.) den freiheitlichen Rechtsstaat? Staatsanmaßung statt Amtsanmaßung?

 

Libras Mission

Wer beim Thema Libra bleibt, wird die ein oder andere Beklemmung jedenfalls nicht ganz vermeiden und bei vorsichtiger Wortwahl zumindest eine „Herausforderung für die Gesellschaft“ (Rehfeld 2019) erkennen müssen. Die Libra Association, die sich selbst als „nicht gewinnorientierte, unabhängige, gemeinnützige Mitgliederorganisation mit Hauptsitz in Genf“ (Libra Association 2019) bezeichnet, hat es jedenfalls geschafft, Schwergewichte wie Mastercard, Visa, Vodafone, Uber (ebd.) und ursprünglich auch PayPal (Lindner 2019) zu gewinnen, um „die Mission von Libra voranzutreiben“ (Libra Association 2019). Geplant ist die Einführung eines Stablecoins (vgl. Sun u.a. 2019: 88ff.), somit einer festen, an einen Währungskorb gebundenen Blockchain-Währung, die mithilfe von Geldpolitik gesteuert werden kann. Ziel ist, eine „einfache, globale Währung und eine finanzielle Infrastruktur für Milliarden von Menschen bereitzustellen, die ihnen das Leben leichter machen“ (Libra Association 2019). Unverkennbar dabei: Der altruistische Wesenszug, der auch schon Facebooks Mission begleitet, den „Menschen die Möglichkeit zu geben, Gemeinschaften zu bilden, und die Welt näher zusammenzubringen“ (Facebook 2019).

 

Die Blockchain als Kerbstock

Grundlegend für diese via Missionen vermittelte Segensfülle ist im Falle von Libra die Blockchain-Technologie, in der nicht erst seit heute das versteckte Potenzial gesehen wird, wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse neu zu gestalten (vgl. Glatz 2018; Rehfeld 2016). Bei ihr handelt es sich um eine Software, die, wie ihr Name verrät, eine Kette von Datenblöcken erzeugt, vermöge derer Transaktionen gespeichert werden. Dabei werden die Datenblöcke von allen Knoten, die an das Netzwerk angeschlossen sind, weiterverarbeitet, wobei eine Kopie des Datensatzes auf allen beteiligten Rechnern verbleibt (vgl. Rehfeld 2016: 26f.). Ähnlich wie bei dem Kerbstocksystem, in dem zwei Stöcke nebeneinander gelegt und quer eingeritzt werden, um zwischen Gläubiger und Schuldner ein von keiner Seite bestreit- oder veränderbares Schuldverhältnis zu dokumentieren (Ferraris 2018), vermag die Blockchain durch ein prinzipiell ähnlich funktionierendes, auf unzählige Computer ausgeweitetes (ebd.) System dezentral für Dokumentations- und Transaktionssicherheit zu sorgen. Damit empfiehlt sich die Blockchain-Technologie im Besonderen für digitale Kryptowährungen, was erklärt, weshalb sie etwa dem Bitcoin zu Grunde liegt (vgl. Antonopoulos 2018). Ohne eine zentrale, intermediäre Prüf- und Ausführungsstelle, wie sie traditionell von Banken oder Notaren wahrgenommen wird, lassen sich Rechtspositionen digital-verbindlich abbilden. Nicht von ungefähr wird die Blockchain auch als dezentrale Buchführungstechnik bezeichnet (Brugger 2019). Dabei tun sich in Zusammenschau mit den so genannten Smart Contracts neue Dimensionen der Prozessautomation auf. Bei Smart Contracts handelt es sich um selbstausführende Wenn-Dann-Protokolle, mithin um formale Regelwerke, in denen Austauschbeziehungen niedergelegt und automatisch ausgeführt werden (Glatz 2018). Der Inhalt der Smart Contracts ist, wie bei allen Daten, die in einer Blockchain hinterlegt werden, nicht veränderbar (ebd.). Derweil liegt die Besonderheit darin, dass sich Smart Contracts im übertragenen Sinne selbst vollstrecken. Da sie digitale Werte und Güter ohne Zwischeninstanz gemäß der geschlossenen Vereinbarung verschieben, rechtfertigt sich die hip klingende, in der Sache jedoch bedenkliche Wendung Code is law (vgl. Schiller 2018). So braucht es technisch niemanden mehr, der das Kerbholz einritzt – das geschieht von ganz allein. In der Sache verfehlt ist der Begriff Smart Contract gleichwohl. Schließlich dürfte auf der Hand liegen, dass die Art und Weise der digitalen Niederlegung und die antizipierte Einigung über die digitale Vollstreckung den Inhalt einer Absprache in seiner Sinnhaftig- bzw. Sinnlosigkeit nicht tangiert.

 

Das Ende des digitalen Naturzustands

Insofern stellt sich in der Tat die Frage, was vor diesem Hintergrund als Alleinstellungsmerkmal des Staates noch übrig bleibt. Konfliktfälle zwischen digitaler und analoger Welt sind möglich und haben das Potenzial, gerade jenen Schichten, die klassischerweise oder aufgrund infrastruktureller Mängel digitalfern agieren, den Anschluss an die digitale Öffentlichkeit zu versperren. Nicht auszuschließen ist, dass die schöne neue Buchführungstechnik in Ordnungsextase abdriftet und das bisher der öffentlichen Gewalt vorbehaltene und von ihr verteidigte Recht streitig gemacht wird, verbindlich über Sein oder Nicht-Sein, Dürfen oder Nicht-Dürfen und Müssen oder Nicht-Müssen zu entscheiden. Festzustellen ist jedenfalls, dass es offensichtlich keines exklusiv agierenden Staates (mehr) bedarf, um Identitäten zu verteilen, Regeln festzulegen, Recht zu sprechen und Finanztransaktionen inkl. zivilrechtlicher Abbildung und Vollstreckung zu organisieren. Weil dies privat, digital und blockchainbasiert sogar besser zu gehen scheint als öffentlich gebunden durch Stift und Papier, droht der öffentlich kontrollierten und domestizierten Staatlichkeit das Schicksal einer Abstimmung mit den Füßen: Warum das chronisch überlastete Amt konsultieren, wenn dieselbe, von weiten Teilen akzeptierte Dienstleistung deutlich schneller woanders erhältlich ist? Staatlichkeit bleibt mithin nicht mehr singulär. Sie wird plural und digital. Es bilden sich digitale Staatlichkeiten, die agil und verbindlich öffentliche Angelegenheiten massetauglich besorgen. Mit der Blockchain endet der digitale Naturzustand.

 

Freiheit und Subsidiarität

Nun ist zur richtigen Einordnung dieser Problematik zuzugeben, dass der analoge Staat zu keiner Zeit die Bestimmung über Identitäten, die Regelsetzung, die Rechtsprechung und die Finanzorganisation auf völlig exklusive Art und Weise an sich herangezogen hat. Im Gegenteil: Es ist gerade Ausdruck des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates, seine Zügel – zu denen auch die goldenen gehören – nicht zu eng anzulegen (vgl. Depenheuer 2017b: 115f). Schließlich ist es auch Ausdruck der viel beschworenen Subsidiarität, nur das staatlich zu regeln, was einer Regelung bedarf und das Übrige den Selbstheilungs- und Selbstverwaltungskräften anderer korporativer oder gar familiärer Strukturen zu überlassen (vgl. Hegel 1805/1806: 48).

 

Bürgerliche Regelsetzung

Bei der Regelsetzung etwa zeigt sich der Staat besonders tolerant. Mit dem Privatrecht liegt ein ganzes Rechtsgebiet in römisch-rechtlicher Tradition vor, das sich dadurch auszeichnet, dass Private selbstständig miteinander in Beziehung treten und ihre Rechte und Pflichten in Verträgen ohne staatliche Einflussnahme regeln. Hierfür können sogar juristische Personen des privaten Rechts gegründet werden, deren Grundregeln in einer Satzung oder einem Gesellschaftsvertrag verbindlich niederzulegen sind. Entscheidend im Privatrecht ist mithin die Äußerung eines privat gebildeten Willens, die Willenserklärung – declaratio voluntatis. Doch nicht nur das Verhältnis des Staates zu Privaten wird durch freiheitliche Selbstbestimmung geprägt. Auch innerstaatliche Strukturen zeichnen sich durch Elemente der Selbstbestimmung aus, die im Begriff der Selbstverwaltung kulminieren. Kennzeichnend etwa für die gemeindliche Selbstverwaltung ist die Satzungshoheit, vermöge derer lokale Gemeinschaften ihre örtlichen Angelegenheiten über Gesetze im materiellen Sinne regeln können (vgl. Schwabe 1995: 16). Folgt man insbesondere einem Verständnis, das Kommunen mehr als bürgerschaftliche und weniger als staatliche Institutionen begreift (vgl. Klauss 2016: 55ff.), können die gemeindlichen Selbstverwaltungsrechte in ihrer Konzeption als durchaus bemerkenswert bezeichnet werden. Schließlich manifestiert sich in ihnen ein Staatsaufbauverständnis, das in geradezu inspirierender Art und Weise den Begriff der Staats-Bürgerlichkeit mit Leben füllt.

 

Privates Rechtsprechen

Auch bei der Rechtsprechung im technischen Sinne erweist sich der Staat als tolerant. Nicht jede Norm, die Geltung beanspruchen darf, wird im Konfliktfall zwangsläufig durch staatliche Gerichte ausgelegt. Wer in einer zivilrechtlichen Angelegenheit etwa eine Schiedsvereinbarung geschlossen hat, wird gemäß § 1032 ZPO mit einer Klage vor einem ordentlichen Zivilgericht regelmäßig nicht durchdringen können. Große gesellschaftliche Subsysteme wie Parteien oder Vereine verfügen darüber hinaus fast schon standardmäßig über interne Gerichtsbarkeiten und auch öffentlich-rechtliche Streitigkeiten können de lege lata Gegenstand von Schiedsverfahren sein. Vermehrt in die Kritik ist die Schiedsgerichtsbarkeit im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um TTIP geraten. Von einer Justiz im Schatten (Krol 2016) und einer Gefahr für die Demokratie (ebd.), über den Aufbau eines Paralleluniversums (Bank 2016) bis hin zur Aushebelung des Justizmonopols des Staates (ebd.) reichten die Befürchtungen. Dabei wurde jedoch nur selten herausgearbeitet, dass privat-verbindliche Konfliktbeilegungsverfahren jedenfalls im Grundsatz keine Neuigkeit darstellen und im Übrigen über ein gesellschaftlich wie finanziell wirkendes Entlastungspotenzial verfügen.

 

Plurale Geldsysteme

Noch weniger vertraut erscheint die Existenz privat betriebener und privat gesteuerter Währungen. Dabei ist das Prinzip von je her bekannt und zeigt sich bereits in dem vom Sommerfest bekannten Verzehrbon, der als Jeton oder Wertmarke eine Bezahlmethode darstellt, die jedenfalls in einem zeitlich und räumlich festgelegten Kreis verbindliche Geltung beanspruchen kann. Theoretisch erweist sich dieser Verkehrsbon etwa bei einem mehrtägigen Fest gar als spekulationsfähige Anlagewährung, vermag der durch den Bon verkörperte Anspruch (etwa auf Überlassung einer verzehrfähigen Bratwurst) den zwischenzeitlichen Anstieg oder Verfall der Ursprungswährung unberührt zu überdauern. Einem ähnlichen Prinzip folgten die in englischen Kolonien der US-Ostküste im 18. Jahrhundert geprägten Token, die einem Mangel an offiziell geprägten Geldmünzen begegneten (Pfestorf 2011: 67). Doch wird abgesehen von diesen praktischen Beispielen aus Alltag und Historie die Währungskontrolle auch in der Theorie bisweilen dem privaten Sektor zugeordnet. So forderte Friedrich August von Hayek schon 1976 das Ende des staatlichen Geldmonopols und die Privatisierung des Geldsystems (vgl. von Hayek 1976). Der Staat solle nach dieser Ansicht kein alleingültiges Währungssystem singulär und zur obligatorischen Nutzung zur Verfügung stellen, sondern der Privatwirtschaft die Herausbildung pluraler Geldsysteme überlassen. Private Institutionen könnten demnach Geld emittieren und in einen Währungswettbewerb einsteigen, natürliche Personen wiederrum könnten die Währungen, die sie nutzen wollen, frei wählen (Hays 2018). Wie in jedem anderen Gütermarkt werde der einsetzende Wettbewerb sodann zu hoher Qualität und somit zu gesamtgesellschaftlichem Wohlstand führen. Insbesondere jedoch – und hier kulminieren von Hayeks Vorstellungen zu einer ultraliberal-pazifistischen Synthese – würde der anhaltende Missbrauch des staatlichen Geldmonopols zum Zwecke individueller Bereicherung, zum Stopfen von Haushaltslöchern oder zur Finanzierung kriegerischer Auseinandersetzungen effektiv unterbunden werden können (ebd.).

Von Hayeks Überlegungen haben sich freilich bisher nicht durchsetzen können. Sie scheinen selbst in liberalen Kreisen keinen praktischen Widerhall gefunden zu haben, wirkt das staatliche Geldmonopol in seiner historisch gewachsenen Erscheinungsform doch allzu selbstverständlich und in keiner Weise zur Disposition stehend (ebd.).

 

Mit der Blockchain zu neuen Ufern

Vor dem Hintergrund vorgenannter Überlegungen mag es verlocken, sich zurückzulehnen und in Anbetracht der Freiheitlichkeit und Subsidiarität des hiesigen Staatswesens und der vermeintlich schon da gewesenen und allzeit erfolgreich gemeisterten Herausforderungen erneut auf einen guten Ausgang und eine sanfte Behauptung des Verfassungsstaates als einzige Ordnungsmacht zu vertrauen. Doch dies scheint – und hier eröffnet sich das dystopische Potenzial – einstweilen nicht verantwortbar zu sein. Schließlich zeigen etwa die von Libra und Facebook verfolgten Missionen, dass nicht nur einzelne Elemente klassisch-staatlicher Kompetenzen, sondern die Definition und Organisation der öffentlichen und privaten Angelegenheiten in Gänze an sich gezogen und damit pluralisiert werden soll. Weil und solange der Staat aufgrund seiner technischen Abgeschlagenheit kein annehmbares und attraktives Angebot zur Ordnung der digitalen Güter zur Verfügung zu stellen vermag, verliert er das, was ihn in der analogen Welt ausmacht: Die Fähigkeit zur letztverbindlichen Gewaltausübung. Der Staat ist im Netz nicht souverän und sieht sich mit Erstarken der Blockchain als digitaler Buchführungstechnik der Möglichkeit beraubt, auf seine eigene Buchführung zu verweisen. Bei der Herstellung von transferfähiger Rechtssicherheit tut sich eine neue Wettbewerbsdimension auf, in dessen Rahmen sich digitale Staatlichkeiten etablieren, deren Angebote zur rechtssicheren Ordnung der Umwelt die staatliche Deutungshoheit in Frage stellen. Die damit verbundene private Gewaltausübung ist demokratisch nicht legitimiert und rechtsstaatlich nicht domestiziert. Sie ist vor allem nicht an Staatsgrenzen gebunden, vermag sie sich ob ihrer digitalen Funktionsweise dem Ordnungsrahmen des Nationalstaates schon von vornherein zu entziehen. Ihr unbegrenzter Wirkradius ist ihr großer Wettbewerbsvorteil, ihr entgrenzter Zugriff derweil die große Gefahr.

 

Beschleunigungspotenziale

Fiktive Realitäten

Dabei profitieren die digitalen Ordnungsangebote von dem hohen Grad an Fiktivität, das dem Politik-, Wirtschafts- und Rechtsleben moderner Gesellschaften immanent ist. Bezugspunkte wesentlicher tag- und lebensfüllender Aktivitäten sind immer weniger haptisch erfahrbare und objektiv gegebene Faktizitäten, die in der Natur ihren Ursprung finden. Vielmehr ist es Ausfluss des omnipräsenten Humanozentrismus (vgl. Cancik 1998: 322), dass intersubjektiv gebildete Artefakte, die bisweilen einer kulturell-kommunikativen Ausfüllung bedürfen, den Schwerpunkt menschlicher Tätigkeiten ausmachen. Quelle des vie quotidienne ist mithin weniger die Natur, als vielmehr die Kultur, deren Interpretation sich in der postindustriellen Gesellschaft westlicher Provenienz zum potenziellen corpus delicti entwickelt (vgl. Knobloch 2019). Dabei ist evident, dass in dem Maße, in dem Reelles artifiziell und Artifizielles reell wird, Technologien an Zulauf gewinnen, welche die Logiken beider Sphären zu einer praktisch verwertbaren Synthese zu verbinden vermögen.

 

Megatrends

Die digitalen Ordnungsangebote profitieren ferner von den Megatrends der heutigen Weltgesellschaft – etwa von der Globalisierung, der Mobilisierung, der Konnektivierung sowie der Wissensbasiertheit (vgl. Zukunftsinstitut 2018). Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Wirkmechanismen der modernen Wissenskultur vor Augen führt und diese in ihrer globalisierten Einbindung unter dem Blickwinkel der zunehmenden Konnektivität betrachtet (ebd.). Schnelle, digitale und verbindliche Zuweisungen von Rechten und Pflichten – seien es Rechte, wie sie klassischerweise in analogen oder digitalen Registern gespeichert werden oder seien es Geldtransfers – nehmen an Bedeutung zu. Schließlich ist es für entwickelte Volkswirtschaften geradezu typisch, dass die in ihnen vorhandenen materiellen und immateriellen Güter und Werte dynamisch sind. Anders ausgedrückt: Statisches Element dynamischer Volkswirtschaften sind die ständigen Wechsel von Verfügungsberechtigungen, die wiederrum prozessorganisatorisch eine Dokumentation derselben erforderlich machen. Stehen nun mit den digitalen Ordnungsangeboten effektive Instrumente für eben diese Dokumentationen zur Verfügung, welche vermöge ihrer Rückanbindung an soziale Netzwerke eine bisher nicht gekannte Wirkmacht entfalten können und treffen diese auf eine wissensbasierte, globalisierte und konnektivierte Gesellschaftsordnung, wird sich der in den Ordnungsangeboten latent schlummernde Staatlichkeitsanspruch mit erhöhter Geschwindigkeit Bahn brechen.

 

Pekings Reaktion

Auf eben solche externen Staatlichkeitsansprüche reagiert die Volksrepublik China schon aus Tradition wenig gelassen. Wachsam stellt sie sich der Auseinandersetzung, indem sie die bereits begonnene Entwicklung einer eigenen staatlichen Digitalwährung weiter vorantreibt (Heide u.a. 2019). Ihr Ziel ist, über ein eigenes „machtvolles Instrument“ (ebd.) zu verfügen, das es mit Libra aufnehmen kann (ebd.). Dabei liegt auf der Hand, dass es aus chinesischer Sicht eines Gegengewichts bedarf, um einer für Auslandstransaktionen geradezu prädestinierten Digitalwährung wie Libra nicht das Feld zu überlassen (Müller 2019). Schließlich ist auch zu bedenken, dass die Etablierung eines fremden Stablecoins wirtschaftlich bedeutsam sein kann. Ein abwertender Renminbi wäre, sähe er sich einer etablierten externen Digitalwährung gegenüber, nicht in der Lage, Donald Trumps Handels- und Zollpolitik effektiv zu konterkarieren.

 

Neue alte Fragen zu Souveränität, Demokratie und Öffentlichkeit

Dass in China nach eigenem Bekunden „996“ an der Entwicklung der Digitalwährung gearbeitet wird – gemeint ist von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends an 6 Tagen die Woche (Heide u.a. 2019) – sollte in hiesigen Gefilden nicht ohne Aufmerksamkeit bleiben. Schließlich liegt es gleichermaßen im Interesse aller völkerrechtlich anerkannter Staaten, ihre eigene Staatlichkeit und den in ihr enthaltenen Souveränitätsanspruch gegen jedwede Infragestellungen von innen und außen zu behaupten. Es überrascht daher nicht, dass viele weitere Staaten die Einführung staatlicher Kryptowährungen prüfen und mehr oder weniger große Fortschritte auf diesem Gebiet erzielen können (vgl. Schmidt 2018). Immerhin geht es bei dieser Frage gerade in Zusammenschau mit den Aktivitäten Facebooks und der entstehenden Währung Libra um nicht weniger als die Behauptung staatlicher Souveränität und die Geltungskraft der Demokratie im digitalen Zeitalter. Dabei entpuppt sich die Thematik, auch wenn sie abstrakt daherkommt, geradezu als Lackmustest für Reichweite und Schlagkraft der öffentlich-rechtlichen Grundordnung. Neue alte Fragen zu Souveränität, zu Demokratie und zum Verhältnis von staatlichen zu privaten Ordnungsmodellen werden aufgeworfen, wenn sich der Staat als analoger Ordnungshüter einer privaten, digitalen Schar an Ordnungshütern entgegensieht und Aufgabenbestände zwischen öffentlicher und privater Sphäre unbemerkt diffundieren. Schließlich ist nicht in Stein gemeißelt, dass all das, was bisher dem vertrauenswürdigen Wertgehalt öffentlich-rechtlicher Regelsetzung und Kontrolle unterworfen ist, auch künftig dort verbleibt. Zu klären wäre daher, ob sich der Staat für das spezifisch in Frage gestellte Feld aus Identitätszuweisung, Regelsetzung, Rechtsprechung und Währungspolitik in seiner kombinierten Gesamtheit sinnvollerweise verantwortlich fühlen sollte. Eine schleichende Pluralisierung und Privatisierung dieser Aufgabenbestände ist jedenfalls technisch möglich und – wie gezeigt – bisweilen auch theoretisch gefordert worden (vgl. von Hayek 1976).

 

Der Staat als abgeleitetes, gebundenes Phänomen

Grundlegend ist darauf aufmerksam zu machen, dass sich das Verhältnis von Staat und Individuen im hiesigen Staatsmodell liberaler Prägung dadurch auszeichnet, dass das Individuum grundsätzlich frei und ungebunden, der Staat hingegen grundsätzlich abgeleitet und gebunden in Erscheinung tritt (vgl. Grimm 2012: 17). Anders ausgedrückt: Wo der Einzelne nach persönlichem Gutdünken entscheidet, ist der Staat an eine Rechtsordnung gebunden, die sich etwa aus Grundrechten, aus supranational gesetztem Recht wie jenes der Europäischen Union, aus Völkerrecht und dem einfachen Recht zusammensetzt. Während das private Rechtssubjekt grundsätzlich frei und beliebig entscheiden kann, was es tut und was es lässt, dürfen staatliche Institutionen schon von Grund auf niemanden bevorzugen oder benachteiligen und haben alle Entscheidungen ohne spezifisches Ansehen der Person zu treffen. Mit der Negation des Ansehens der Person zieht die staatliche Ordnungskraft ihre Legitimation im Übrigen aus einer Vorstellung, die denklogisch von der Alternativlosigkeit und Singularität einer ordnenden und damit höheren Macht ausgeht. Denn wie der Staat ohne Ansehen der Person zu entscheiden hat, so gibt es schon nach Paulus‘ Brief an die Römer ebenfalls „kein Ansehen der Person vor Gott“ (Römer 2, 11 laut der Bibelübersetzung Martin Luthers, herausgegeben im Jahr 1965 von der Württembergischen Bibelanstalt Stuttgart). Extrahierbar ist mithin die Vorstellung, dass immer dann, wenn sich der verletzlichen Einzelperson eine Übermacht entgegenstellt – sei sie nun göttlich oder staatlich oder beides – der Einzelperson immerhin die Gnade zukommt, nicht als Person mit all ihren Flusen und Sperenzien angesehen, sondern nur aufgrund feststehender Tatbestandsmerkmale beschieden zu werden. Öffentlich-rechtliche Verfahren und Entscheidungen, in denen das Individuum sich einem potenziell machtvollen Kollektiv gegenübersieht, werden folgerichtig durch das Öffentliche Recht determiniert, dem eine spezifische Wertigkeit immanent ist (vgl. Grimm 2012: 20). Im Gegensatz zum Privatrecht, das apolitisch daherkommt und sich traditionell als Element der liberalisierten Privatsphäre versteht (vgl. ebd.: 20f.), begegnet das Öffentliche Recht dem anspruchsvollen Unterfangen, durch Zwang Freiheitsschutz zu gewährleisten (vgl. ebd.: 20). Allein schon im Ersinnen und Administrieren dieses Scheinwiderspruchs ist eine beachtliche „Kulturleistung“ (Depenheuer 2012: 89) zu sehen, die es gebietet, Ansprüche und Werte des Öffentlichen Rechts in Ansehung neuartiger Problemlagen mit Verve zur Geltung zu bringen (vgl. ebd.: 79). Dabei ist dem Öffentlichen Recht durch das ihm innewohnende Element der Gemeinwohlbindung ein erhebliches und gerade deshalb sehr nützliches Störpotenzial immanent (ebd.: 88). Dem Öffentlichen Recht unterworfene Institutionen können nicht im Raum des Beliebens operieren, müssen ihre Entscheidungen und die dahinter stehenden Prozesse demokratisch legitimieren können (vgl. Böckenförde 2004) und haben bei allen Maßnahmen und Handlungen die allgemeine Rechtsordnung und insbesondere die Grundrechte zu beachten. Wer daher das Feld aus Identitätszuweisung, Regelsetzung, Rechtsprechung und Währungspolitik dem ungebundenen Privatsektor zuschlagen will, muss sich darüber im Klaren sein, dass der erhoffte Zugewinn an Agilität und Wettbewerb zwangsweise auf Kosten der demokratischen Kontrolle stattfindet: Facebook als Personalausweisbehörde, bei der die Gebühren in Libra eingezogen werden.

 

Der singuläre digitale Staat als Gegenmodell

Wünschenswertes Gegenmodell zu den pluralen digitalen Staatlichkeiten des Privatsektors ist der öffentlich-rechtlich gebundene, digitale Staat. Dieser digitale Staat, der den digitalen Raum als Bezugsobjekt seiner Herrschaftsgewalt (Schliesky u.a. 2018: 3) erkennt und darauf hinwirkt, die Erschließung und Beherrschung dieses Raumes (ebd.) aufgrund seiner demokratischen Legitimation und auf Basis der liberalen Verfassungsordnung sicherzustellen, verknüpft die digitale mit der analogen Welt (vgl. Glatz: 71) und behauptet das Recht, öffentliche Angelegenheiten ausschließlich zu besorgen. Die Kompetenz, Phänomene der Umwelt letztverbindlich zu deuten und ihre Konsequenzen administrativ und mit Drittwirkung einseitig umzusetzen (vgl. Jellinek 1905: 413), bleibt ihm vorbehalten. Glaubwürdig einfordern kann der digitale Staat diese Kompetenz jedoch nur, wenn er auch im digitalen Raum souverän ist. Er benötigt daher Instrumente, die es ihm erlauben, den digitalen Raum zu ordnen und demokratisch legitimierte, öffentliche Gewalt über ihn und in ihm auszuüben.

 

Praktische Vorschläge

Ideen, wie dies gelingen kann, gibt es bereits. So steht ein mit der Libra-Offenbarung zeitlich zusammenfallendes Positionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Raum (Rehfeld 2019), das verschiedene Anwendungsfelder skizziert, in denen die Blockchain sinnvollerweise Einsatz finden könnte (CDU/CSU 2019). Jene Anwendungsfelder seien beispielsweise digitale Wertpapiere (ebd.: 4), digitale Identität und digitale Identifizierungen (ebd.: 7f.), der digitale Euro (ebd.: 8f.) und auch die Automobilindustrie (ebd.: 9). Bei den digitalen Identitäten und Identifizierungen wird etwa ein Szenario beschrieben, in welchem Notare, die über eine diesbezügliche staatliche Erlaubnis verfügen, Firmen, Personen und Maschinen identifizieren und hierüber ein digitales Zertifikat ausstellen (ebd.: 7). Im Raume steht ferner die Idee eines digitalen bzw. elektronischen Euro, der als Stablecoin insbesondere im grenzüberschreitenden Verkehr für einfache, kostengünstige und schnelle Zahlungen verwendet werden könnte (ebd.: 8). Für den Bereich der Automobilindustrie wird dargelegt, dass durch die Blockchain die unveränderliche Speicherung von sicherheits- und kundenrelevanten Daten ermöglicht würde und sich dadurch Einfallstore für Manipulationen verkleinern ließen (ebd.: 9). Dabei wird erkannt, dass es zur Umsetzung dieser Ideen einer Infrastruktur bedarf, die es zwar „im Wesentlichen bereits gibt, die jedoch dezentral oder privat betrieben wird“ (ebd.: 11). Da hieraus Probleme etwa wegen unzureichender Kontrolle oder Manipulationsmöglichkeiten erwachsen könnten, sei es unumgänglich, dass eine eigene staatliche Infrastruktur geschaffen werde, die interoperabel ausgestaltet sein müsse (ebd.: 11). Die Bundesregierung erkannte in ihrer Blockchain-Strategie das Handlungsfeld der digitalen Identitäten (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie; Bundesministerium der Finanzen 2019: 17f.), konnte sich bei der Frage einer staatlichen Infrastruktur hingegen nicht zu einer klaren Aussage durchringen (ebd.: 19). Zwar begrüßt die Bundesregierung, dass „auf kommunaler Ebene erste Blockchain-Infrastrukturen aufgebaut werden und somit Grundlagen geschaffen werden, um die Blockchain-Technologie zur Umsetzung von Verwaltungsdienstleistungen in Betracht zu ziehen“ (ebd.). Die weiteren zu einer staatlichen Blockchain-Infrastruktur getroffenen Aussagen erschöpfen sich hingegen in einer weichen, summarischen Wiedergabe von Pro- und Contra-Positionen (ebd.). Immerhin kann an der Begrüßung kommunaler Aktivitäten und der Beteiligung am Aufbau einer Europäischen Blockchain-Infrastruktur (ebd.) abgelesen werden, dass eine tendenziell positive Grundhaltung der Bundesregierung zu staatlich betriebenen Blockchain-Infrastrukturen besteht.

 

Infrastruktur als Schlüsselbegriff

Dabei wirkt die Thematik nach Beleuchtung des verschiedentlich angesprochenen Begriffs der Infrastruktur gerade zu befreiend evident. Diese darf verstanden werden als „Grundausstattung einer Volkswirtschaft (eines Landes, einer Region) mit Einrichtungen, die zum volkswirtschaftlichen Kapitalstock gerechnet werden können, die aber für die private Wirtschaftstätigkeit den Charakter von Vorleistungen haben“ (Klodt 2018). Aus eben diesem Verständnis von Vorleistungen, die ohne an sie andockende Hauptleistungen Privater keinen Sinn hätten, gleichzeitig jedoch die Hauptleistungen Privater erst ermöglichen, resultiert die Verantwortlichkeit für die Infrastruktur als Staatsaufgabe. Denn unbestritten gilt die Sicherstellung einer gewissen Infrastruktur selbst unter Altliberalen als Staatspflicht (Schwarz 2014). Sieht man sich hingegen den aktuellen Entwicklungsstand der digitalen Gesellschaft an und führt sich vor Augen, dass etwa das Ziel von Libra darin besteht, eine „einfache, globale Währung und eine finanzielle Infrastruktur (Kursivmarkierung durch den Verfasser) für Milliarden von Menschen bereitzustellen, die ihnen das Leben leichter machen“ (Libra Association 2019), fällt auf, dass Libra offenbar gerade die umgekehrte Logik zu statuieren versucht: Durch Privatsubjekte sollen gesellschaftliche Vorleistungen erbracht werden, derer sich ein Kollektiv dann – freilich nicht gegenleistungsfrei – bedienen darf. Ergebnis dieser in Vollnarkose durchgeführten Operation unter Nutzung digitaler Instrumente: Der Nasenring, mit dem Leviathan durch die Manege geführt werden soll, ist angebracht.

 

Auswege

Freilich muss es so weit nicht kommen. Vorschläge zur Erkundung und Inanspruchnahme des digitalen Raumes durch demokratisch legitimierte Institutionen liegen auf dem Tisch und sind mit entsprechender Expertise umsetzbar (CDU/CSU 2019). So ist der „E-Euro“ als Alternative zu einer privaten Weltwährung nicht mehr nur eine Randüberlegung (Kasanmascheff 2019).  Derweil ist unverkennbar, dass etwa die Entwicklung eines digitalen Euro einer kraftvollen, europäischen Initiative und Umsetzung bedarf. Bis dahin ist es misslich, in der Sache aber logisch, dass eigene Initiativen europäischer Länder wie der Estcoin aus Estland auf den Widerstand der Europäischen Zentralbank stoßen (vgl. DER STANDARD 2017). Ganz grundsätzlich ist erforderlich, dass Staaten und ihr Institutionen, die auf der Höhe der Zeit agieren und ihren Souveränitätsanspruch verteidigen wollen, über eine eigene Blockchain-Infrastruktur verfügen, über die sie digitale Verwaltungsdienstleistungen rechtssicher und kostengünstig abwickeln, die jedoch auch der Nutzung durch Privatrechtssubjekte offen steht. Not tut die Verinnerlichung eines Verständnisses, das dem Vorleistungscharakter digitaler Infrastruktur in genügendem Maße Rechnung trägt. Erleichtert würde hierdurch einerseits die Entwicklung eigener öffentlicher Anwendungen im Rahmen der digitalen Verwaltung, deren Ziel darin gesehen werden darf, eine Transformation zu vollführen, in dessen Rahmen aus einer Verwaltungsmaschine, die sich auf Menschen stützt, eine menschliche Verwaltung werden soll, die sich auf Maschinen stützt (Djeffal 2017: 815). Andererseits würde dem im weitesten Sinne repressiven, dadurch jedoch nicht weniger freiheitssicherndem Ziel näher gekommen, Kontrolle über den digitalen Raum und das in ihm noch weitgehend verborgene Ordnungs- und Herrschaftspotenzial (zurück) zu gewinnen. Wenn bald nichts mehr ist, was nicht digital abgebildet ist, wird klar, dass sich „dieses bewußtlosen, blinden Schicksals (…) das Allgemeine bemächtigen und eine Regierung werden [muss]“ (Hegel 1805/1806: 33). Es geht um nichts weniger als die Verteidigung der Demokratie im digitalen und globalen Zeitalter.

 

 

Anmerkung:

Der Artikel wurde im Wesentlichen bis November 2019 recherchiert. Spätere Entwicklungen wurden nur noch vereinzelt erfasst.

 

Literaturnachweise:

Antonopoulos, Andreas (2018): Bitcoin und Blockchain. Grundlagen und Programmierung. Heidelberg: O’Reilly.

 

Bank, Max (2016): TTIP-Schiedsgerichte: Wie Deutsche Bank, Telekom & Co. sich ihr Paralleluniversum bauen und das Justizmonopol des Staates aushebeln wollen. URL: https://www.lobbycontrol.de/2016/10/ttip-schattenjustiz/ (Abruf: 20.08.2019).

 

Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2004): Demokratie als Verfassungsprinzip. In: Isensee, Josef; Kirchhof, Paul (Hg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band II. Heidelberg: C. F. Müller, S. 429-496.

 

Brugger, Fritz (2019): Warum Blockchain bei Konfliktmineralien nicht hilft. URL: https://spotfolio.com/2019/04/11/warum-blockchain-bei-konfliktmineralien-nicht-hilft/ (Abruf: 13.08.2019).

 

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NRW diskutiert Entwurf eines Landes-E-Government-Gesetzes mit der Öffentlichkeit

von Benjamin Fadavian (2015)

Auf https://egovg.nrw.de/egovg/de/home (1) steht es bis zum 31.08.2015 jedermann offen, den Entwurf eines E-Government-Gesetzes für das Land NRW zu diskutieren und sowohl einzelne Punkte als auch das Gesamtpaket zu kommentieren. Ohne die Diskussion und die Kommentare, die auf die Beteiligungsplattform gehören, hier abhalten zu wollen, möchte ich jedoch den folgenden Gedanken kurz notieren: Die Initiative, ein E-Government-Gesetz für das Land NRW zu schaffen, ist sinnvoll und notwendig. Das noch vor der Bundestagswahl 2013 beschlossene E-Government-Gesetz des Bundes (siehe im Übrigen mein Kommentar hier: http://www.kommimpuls.de/2013/08/ruckenwind-fur-die-moderne-verwaltung/) (2) hat einen ganz konkreten Fortschritt für die moderne Verwaltung bewirkt, wenngleich auch mehr möglich gewesen wäre. Das Gesetz des Bundes konnte und kann aus der im Grundgesetz verankerten Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern allerdings nur für jene Verwaltungsverfahren Geltung beanspruchen, in denen vom Land Bundesrecht ausgeführt wird. Das sind zwar viele und bedeutende Verfahren. Auf Verwaltungsverfahren, in denen jedoch von Landes- oder Kommunalbehörden Landesrecht angewandt wird (z.B. bei Verfahren nach dem StrWG NRW, der BauO NRW oder dem LHundG NRW) ist aber nach wie vor kein eGovernment-Gesetz anwendbar. Das kann im Extremfall dazu führen, dass, je nach dem, welcher staatlichen Ebene das materielle Recht zuzuordnen ist, unterschiedliche elektronische Standards im Verwaltungsverfahren anzuwenden sind – ein wenig überzeugendes Ergebnis. Die Initiative für ein E-Government-Gesetz NRW, die hinsichtlich der Ausgestaltung der Verwaltungsverfahren die bundesgesetzlichen Vorgaben berücksichtigt, ist daher zu begrüßen. Auf die Ergebnisse der Öffentlichkeitsbeteiligung und das weitere Gesetzgebungsverfahren darf man gespannt sein.

(1) Abgerufen: 10.07.2015

(2) Abgerufen: 10.07.2015

Gesetzgeberischer Handlungsbedarf beim ersetzenden Scannen

von Benjamin Fadavian (2014)

Die Erfindung des Papiers wird gemeinhin dem chinesischen kaiserlichen Beamten Ts‘ai Lun zugeschrieben, der um ca. 105 (n. Chr.) die Papierherstellung in der östlichen Han-Dynastie dokumentierte. Im Jahre 2015 wird die Menschheit jährlich ca. 440 Millionen Tonnen Papier herstellen (1). Und deshalb verwundert es auch nicht, dass Ts’ai Lun auf Rang 7 der einflussreichsten Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte platziert wird (2). Es könnte und sollte heutzutage jedoch ein politisches und administratives Ziel sein, die Relevanz des Herrn Lun jedenfalls insoweit zu begrenzen, als dass der Papierverbrauch nicht noch weiter erhöht wird. Hierbei sollte es nicht nur darum gehen, der Umwelt einen Gefallen zu tun. Ebenso gibt es rein praktische Erwägungen: Papier muss hergestellt, transportiert, gekauft, aufbewahrt, gedruckt, verschickt und auch archiviert werden, damit mit diesem Medium gearbeitet werden kann. Das geht auch einfacher – zum Beispiel digital.

Dennoch: Papier wird und soll nicht komplett aus den Büros verschwinden. Papier besitzt Haptik und verkörpert etwas Bleibendes. Der gedruckte Brief wird weiter verwendet werden, wenn er dem Gegenüber eine subjektiv höhere Relevanz der Botschaft ausdrücken soll.

Große Würfe sind jedoch zu erzielen, wenn im Massenverkehr auf unnötiges Papier verzichtet wird, insbesondere in formalisierten Verfahren bei dynamischen und aufbewahrenden Stellen – wie in der Verwaltung.

Ins Gerede ist hierbei das ersetzende Scannen kommen. Es geht schlicht darum, dass eine Stelle prüft, inwieweit sie Dokumente ersetzend scannen kann, d.h. inwieweit es möglich ist, nach einem Scan das Original zu vernichten. Der § 7 des E-Government-Gesetzes vom 25. Juli 2013 gibt hierbei bereits die Richtung vor (3), wenn er sagt:

(1) Die Behörden des Bundes sollen, soweit sie Akten elektronisch führen, an Stelle von Papierdokumenten deren elektronische Wiedergabe in der elektronischen Akte aufbewahren. Bei der Übertragung in elektronische Dokumente ist nach dem Stand der Technik sicherzustellen, dass die elektronischen Dokumente mit den Papierdokumenten bildlich und inhaltlich übereinstimmen, wenn sie lesbar gemacht werden. Von der Übertragung der Papierdokumente in elektronische Dokumente kann abgesehen werden, wenn die Übertragung unverhältnismäßigen technischen Aufwand erfordert.

(2) Papierdokumente nach Absatz 1 sollen nach der Übertragung in elektronische Dokumente vernichtet oder zurückgegeben werden, sobald eine weitere Aufbewahrung nicht mehr aus rechtlichen Gründen oder zur Qualitätssicherung des Übertragungsvorgangs erforderlich ist.

 Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik hat überdies die TR RESISCAN (Technische Richtlinie für das Ersetzende Scannen) (4) herausgegeben, die das Ziel verfolgt, die Rechtssicherheit im Bereich des ersetzenden Scannens zu steigern. Es ist jedoch fraglich, ob diese Rechtssicherheit in jedem Gebiet tatsächlich erreicht wird. Hierzu wurden gleichsam in Anlage R der Richtlinie unverbindliche rechtliche Hinweise veröffentlicht (5), die einen spannenden Überblick darüber geben, welchen rechtlichen Rahmenbedingungen ein jeweiliges ersetzendes Scannen unterläge – je nachdem, welcher Dokumententyp einschlägig ist. Dies wird beispielhaft anhand von Gerichtsakten, Verwaltungsunterlagen, Sozialversicherungsunterlagen, medizinischen Dokumentationen, kaufmännischen Buchführungsunterlagen, Besteuerungsunterlagen und Personalakten dargestellt. Diese müssen jeweils einer Schutzbedarfsanalyse anhand feststehender Kriterien unterzogen werden.

Auffällig sind hierbei unter anderem die Ausführungen zum ersetzenden Scannen von Personalakten im Rahmen der Bundesverwaltung. Zwar wird nachvollziehbar dargelegt, dass eine parallele Aktenführung in Papierform und in elektronischer Form wohl kaum dem Ansinnen des Gesetzgebers entsprechen dürfte, gleichwohl kann dem Bundesbeamtengesetz eine eindeutige Erlaubnis zur Vernichtung beweisrelevanter Urkunden der Beamtin oder des Beamten nicht entnommen werden. § 113 IV BBG deute vielmehr auf das Gegenteil hin. Es werde daher empfohlen, in § 106 BBG das ersetzende Scannen ausdrücklich zu erlauben.

Nun kann unter diesen Umständen auf dem Gebiet des ersetzenden Scannens von Personalakten kaum von Rechtssicherheit gesprochen werden. Der Gesetzgeber ist daher gefordert, für Klarheit zu sorgen, damit der Anwender eindeutig nachvollziehen kann, wann ersetzendes Scannen zulässig ist und wann nicht.

(1) http://www.wwf.de/themen-projekte/waelder/papierverbrauch/zahlen-und-fakten/ (09.10.2014)

(2) http://de.wikipedia.org/wiki/Die_100 (09.10.2014)

(3) Ein Minikommentar zum eGovG findet sich auf der Seite des BMI unter http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/OED_Verwaltung/Informationsgesellschaft/egovg_minikommentar.pdf%3Bjsessionid%3D287954C656A017C136385DCB72CE0E32.2_cid295?__blob=publicationFile (09.10.2014).

(4) https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/BSI/Publikationen/TechnischeRichtlinien/TR03138/TR-03138.pdf?__blob=publicationFile (09.10.2014).

(5) https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/BSI/Publikationen/TechnischeRichtlinien/TR03138/TR-03138-Anlage-R.pdf?__blob=publicationFile (09.10.2014)

(6) ebenda

Entwicklung und Durchsetzung des Umweltinformationsgesetzes (UIG)

von Benjamin Fadavian (2013)

In der öffentlichen Debatte und dem politischen Bewusstsein treten Forderungen nach einer stärkeren Öffnung der Verwaltung und des Staates (Open Government) und ihrer Daten (Open Data) immer mehr in Vordergrund. Die verschiedenen Bewegungen haben es geschafft, die vormals netzpolitische und eher von Interneteliten geführte Debatte in die Breite der Gesellschaft zu führen. Es ist kein Zufall, dass sich immer mehr Menschen die Frage stellen, ob es nicht sinnvoll und im Sinne größtmöglicher Informationsfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) ist, wenn Verwaltungen nicht personengebundene und nicht sicherheitsrelevante Daten zur freien Nutzung aller Bürger freigeben und die Hürden zur Einsichtnahme möglich niedrig sind (Kostenlosigkeit, Maschinenlesbarkeit, etc.). In viele Städten (Berlin, Köln, Wuppertal, Aachen etc.) finden Open-Data-Days statt, die Enquête-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des Deutschen Bundestages beschäftigt sich mit dem Thema und auch die nordrhein-westfälische Landesregierung hat Open Government erst kürzlich als ein Ziel formuliert.

Wer sich das Thema Open Government näher ansieht, kommt nicht umhin, sich die deutsche und europäische Rechtsentwicklung näher zu Gemüte zu führen. Neben dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) des Bundes und aktuellen Entwicklungen wie dem Hamburgischen Transparenzgesetz (HmbTG), das in seiner Entstehung einer eigenständigen Beleuchtung bedürfte, ist das Umweltinformationsgesetz (UIG) des Bundes ein Beispiel dafür, wie Open Data im Umweltbereich entstehen kann und wie damit umgegangen wird. Zwar beschränkt es sich, wie der Name bereits vermuten lässt, nur auf Umweltdaten. Dennoch lassen sich hieraus neben dem IFG Tendenzen ablesen, die nach der ein oder anderen Modifikation in die richtige Richtung führen können. In seiner Entwicklung und Entstehung ist das UIG, das wesentlich älter als das IFG ist, ein interessantes Beispiel, wie die Konfliktlinien nicht nur zwischen den Parteien (wie beim IFG), sondern auch zwischen EU und Mitgliedsstaat aussehen kann.
Auffällig ist zunächst, dass das UIG seinen Ursprung nicht in Deutschland hat. Grundlage für das UIG ist die EU-Richtlinie 90/313/EWG des Rates vom 7. Juni 1990 (1). Nach Artikel 1 der Richtlinie ist es das Ziel, den freien Zugang zu den bei den Behörden vorhandenen Informationen über die Umwelt sowie die Verbreitung dieser Informationen zu gewährleisten und die grundlegenden Voraussetzungen festzulegen, unter denen derartige Informationen zugänglich gemacht werden sollen. Hiernach folgen die wesentlichen inhaltlichen Vorschriften, insbesondere Artikel 3, wonach die Mitgliedsstaaten dafür Sorge tragen, dass ihre Behörden im Grundsatz (also vorbehaltlich verschiedener Ausnahmetatbestände) verpflichtet werden, allen natürlichen oder juristischen Personen auf Antrag ohne Nachweis eines Interesses Informationen über die Umwelt zur Verfügung zu stellen. Gemäß Artikel 9 erlassen, wie bei EU-Richtlinien üblich, die Mitgliedsstaaten die nötigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um die Richtline zu verwirklichen. Als Frist wurde seinerzeit der 31. Dezember 1992 festgelegt. Wer sich das UIG ansieht, wird jedoch rasch feststellen, dass es erst am 16. Juli 1994 in Kraft trat. Was galt also in der Zwischenzeit? Der Europäische Gerichtshof (EuGH) prägt im Unionsrecht seit geraumer Zeit den effet-utile-Grundsatz, für den charakteristisch ist, dass eine Norm so ausgelegt werden soll, dass das Vertragsziel am effektivsten erreicht werden kann. Das heißt in der Konsequenz, dass auch Normen aus Richtlinien, die im Regelfall eines nationalstaatlichen Umsetzungsaktes bedürften, direkt anwendbar sein können. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn ein Staat die Umsetzung von EU-Recht versäumt und dem Bürger des entsprechenden Mitgliedsstaates subjektive Rechte nicht zur Verfügung stehen, die ihm bei ordnungsgemäßer Transformation des EU-Rechts in nationales Recht zur Verfügung stünden. So lag der Fall zwischen 01. Januar 1993 und der Umsetzung es UIG 1994. Die Umsetzung des UIG 1994 entsprach jedoch, obgleich seiner Verspätung, nicht den Anforderungen der EU-Richtlinie. Erst 2001, nachdem Deutschland in einem Vertragsverletzungsverfahren zur EU-konformen Umsetzung verurteilt worden war, trat ein mit EU-Recht vereinbarungsfähiges UIG in Kraft. Die völkerrechtlichen Entwicklungen machten das UIG jedoch auch in der neueren Fassung von 2001 schon bald wieder hinfällig. Nur wenige Monate nach In-Kraft-Treten des EU-konformen UIG trat das Aarhus-Abkommen (2) in Kraft, das den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten regelte und erstmals jeder Person Rechte im Umweltschutz zuschrieb (3). Die EU erließ 2003 daher eine neue Richtlinie (4), die Deutschland 2005 zu einer notwendigen Änderung des UIG veranlasste.

Die oben aufgezeigte Entwicklung liest sich bei politischer Bewertung wie eine Abfolge verschiedener Maßnahmen, welche – freundlich ausgedrückt – nicht auf die Herstellung von Transparenz und umfassenden Informationsrechten gezielt sind. So ist zunächst festzustellen, dass Deutschland nicht von sich aus ein dem UIG vergleichbares Regelungswerk im nationalen Recht verankert hatte. Darüberhinaus versäumte Deutschland die rechtzeitige Umsetzung der EU-Richtlinie und setzte sodann ein Gesetz in Kraft, das nach richterlicher Feststellung nicht einmal den Mindestanforderungen der Richtlinie entsprach. Die Tendenz ging und geht leider dahin, dass Deutschland die europa- und völkerrechtliche Entwicklung verschläft und bei Transparenzoffensiven jedenfalls bisher eher als Bremser denn als Treiber fungierte. So kann vielen unserer Nachbarländer und der EU ingesamt durchaus attestiert werden, auf dem Gebiet der offenen Daten deutlich weiter zu sein und wesentlich innovativere Denkkonzepte zu verfolgen. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich bei dem verwandten Thema „Open Education“, auch „offener Schulcontent“ ab. Die EU hat in verschiedenen Dokumenten (5) neue Lehr- und Lernmethoden auf Basis von digitalem offenem Schulcontent empfohlen. Staatliche Initiativen, die diese Entwicklung aufgreifen und sich als Vorreiter bei Innovationen verstehen, sind derzeit jedoch, anders als in anderen Mitgliedsländern, kaum zu entdecken.
Generell bleibt abzuwarten, wie sich die Entwicklung in den Bereichen Open Data und Transparenz entwickelt. Die politische Debatte erkennt jedoch zunehmend, dass Bürger gegenüber ihrer Verwaltung ein gesteigertes Transparenzbedürfnis haben. Die Gesetzgebung und der gesamte Public Sector sind gut beraten, sich frühzeitig und strategisch mit der Thematik auseinanderzusetzen, um von Entwicklungen aus der Mitte der Bürgerschaft oder dem sich entwickelnden europäischen Rechtsrahmen nicht unvorbereitet getroffen zu werden. Hierbei wäre es insbesondere wünschenswert, dass die Chancen und Möglichkeiten offener Daten, z.B. im Bereich der Wirtschaftsförderung, stärker in den Blickwinkel genommen werden.

(1) http://eur-lex.europa.eu/smartapi/cgi/sga_doc?smartapi!celexplus!prod!CELEXnumdoc&numdoc=390L0313&lg=de (28.01.2013)

(2) http://www.bmu.de/fileadmin/bmu-import/files/pdfs/allgemein/application/pdf/aarhus.pdf (28.01.2013)

(3) http://de.wikipedia.org/wiki/Aarhus-Konvention (28.01.2013)

(4) Richtlinie 2003/4/EG

(5) vgl. COM(2012) 669 final (abrufbar unter: http://ec.europa.eu/education/news/rethinking/com669_de.pdf; 28.01.2013, S. 11)